40 Jahre Projekt „Eine Welt in der Schule“

Wie alles begann...

"Mit dem Grundschulpreis in Höhe von 10 000 Mark wurde die Forschungsarbeit einer Projektgruppe des Pädagogischen Seminars der Universität Göttingen bei der Interschul in Dortmund im Rahmen der Veranstaltungsreihe 'Erziehung zum Frieden' ausgezeichnet."
(Göttinger Tageblatt vom 26. Juni 1976)

Mehr als drei Jahre intensiver Forschungs- und Unterrichtsarbeit gingen diesem Ereignis voraus. Fast drei Jahre Forschungs- und Unterrichtstätigkeit folgten, bis das Projekt "Eine Welt in der Schule" bzw. damals "Dritte Welt in der Grundschule" das Licht der Welt erblickte. Sieben Jahre Vorbereitung ist eine lange Zeit, ein nicht unwichtiger Gesichtspunkt, wenn man nach einer Erklärung für die 40-jährige Beständigkeit des Projektes sucht. Denn alles, was sich in diesen sieben Jahren Vorbereitungszeit bewährt hat, ging in die Gestaltung des Projektes ein und bildet auch heute noch - um manche Erkenntnis bereichert - die Fundamente unserer Arbeit.

Der unmittelbare Vorlauf des Projektes begann auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1978. Das Motto dieser Buchmesse "Kind und Buch" mit einem Schwerpunkt "'Dritte Welt' im deutschen Kinderbuch" inspirierte den Grundschulverband (ehemals: Arbeitskreis Grundschule e. V.) zu einer Fachtagung, die diesem Thema gewidmet war, und zu einem Themenheft der Zeitschrift "Grundschule" (Juli 7/1979) mit dem Titel "Kinder und die Dritte Welt". Schon im August 1979 folgte die erste Ausgabe unserer Zeitschrift "Dritte Welt in der Grundschule", heute "Eine Welt in der Schule".
Finanziert wurde unsere Zeitschrift - vor allem als Beilage zu pädagogischen Fachzeitschriften - von Anfang an vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das dafür seine sporadisch (3- bis 4-mal im Jahr) erscheinende Broschüre "Schule und Dritte Welt" einstellte. Dabei war von vornherein klar, dass wir zunächst intensiv in den Grundschulen einsteigen wollten, um dann nach und nach das Projekt auf die weiterführenden Schulen auszudehnen. Im ersten Bewilligungsantrag zum Projekt "Dritte Welt in der Grundschule" an das BMZ vom 7. Februar 1979 heißt es denn auch "Ziel des Projektes ist es, durch verschiedene Maßnahmen (Zeitschrift, Lehrerfortbildung usw.) und in Zusammenarbeit mit den Bundesländern (Kulturhoheit der Länder!) möglichst in allen Grundschulen der Bundesrepublik Deutschland praxisbewährte Unterrichtsbeispiele einzuführen, die eine positive Einstellung gegenüber Völkern und Kindern der Dritten Welt fördern können."
Die allgemeine Begründung und auch die spezielle Begründung für die Auswahl des Primarbereichs dürfte auch heute noch nicht überholt sein:

Allgemein: "Entwicklungspolitik kann mit Aussicht auf Erfolg nur verwirklicht werden, wenn sie durch eine entsprechende und d. h. wesentlich zu verändernde Einstellung der gesamten Bevölkerung getragen wird. Dies erfordert eine Intensivierung der Bemühungen im schulischen Bereich."
Speziell: "Will man Einstellungen gegenüber anderen Völkern und damit auch gegenüber den armen Ländern der Dritten Welt positiv beeinflussen, dann dürfte es nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig sein, zu jenem Zeitpunkt zu beginnen, zu dem diese Einstellungen entstehen und sich verfestigen. Zahlreiche empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass dieser Zeitpunkt ziemlich früh in der kindlichen Entwicklung, nämlich zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr, anzusetzen ist. Das Beunruhigende ist dabei, dass dieser Prozess der Einstellungsentstehung normalerweise eher zum Negativen als zum Positiven verläuft. Das durchaus legitime Sicherheitsbedürfnis der Kinder - häufig verstärkt durch einen restriktiven Erziehungsstil in der Familie - zusammen mit der entwicklungsbedingten Tendenz zur Stereotypisierung (natürliche Egozentrik des Kindes) führt zur undifferenzierten Abwertung des Andersartigen, Fremdländischen, Ungewohnten. Will man positive Beziehungen zu Menschen anderer Hautfarbe, anderer Sprache, anderer Lebensgewohnheiten usw. fördern - zweifellos eine unabdingbare Voraussetzung für ein partnerschaftliches Verhältnis der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zur Dritten Welt - muss man schon im Elementar- bzw. Primarbereich didaktisch-methodisch geeignete Maßnahmen ergreifen, die den Kindern dieser Altersstufe emotional fundierte, gleichzeitig auch differenzierte Einstellungen gegenüber Angehörigen anderer Völker ermöglichen."


Dritte Welt in der Grundschule

13 Jahre lang (1979-1991) trug unsere Zeitschrift den Titel "Dritte Welt in der Grundschule". Obwohl wir die Bezeichnung "Dritte Welt" für die "arme Welt" von Anfang an für obsolet hielten, konnten wir sie gegen den institutionalisierten Willen unseres Hauptgeldgebers nicht verändern.
In den 80er Jahren konnte man sich allerdings ohne die Bezeichnung "Dritte Welt" kaum einem breiten Publikum verständlich machen. Wir versuchten diesen Mangel zu unterlaufen, indem wir stets von der "Dritten Welt in der Ersten Welt" und von der "Ersten Welt in der Dritten Welt" sprachen, um auf diese Weise zu zeigen, dass die Einteilung der Erdbevölkerung in Welten eine höchst fragwürdige Gemengelage ist. Dieser Ansatz verschaffte uns die Möglichkeit, die ferne "Dritte Welt" in die Nähe der Kinder zu holen, entsprechend unserem Grundsatz: Für die Verantwortbarkeit und positive Wirkung aller Aktivitäten zum Lernbereich "Dritte Welt" im Elementar- und Primarbereich ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass sie im Rahmen einer umfassenden Sozialerziehung erfolgen: Erziehung zur Solidarität mit diskriminierten Menschen in der fernen "Dritten Welt" beginnt beim Verhalten gegenüber den eigenen Spiel- und Schulkameradinnen und -kameraden.

Nach vier Jahren zogen wir eine erste Bilanz. An die 40 Unterrichtsbeispiele - alle praxiserprobt - hatten wir veröffentlicht. In einer Fragebogenaktion erkundeten wir das Schicksal unserer Unterrichtsbeispiele in der bundesweiten schulischen Praxis. Die Auswertung ergab, dass alle bisher veröffentlichten Unterrichtsbeispiele - gleichmäßig über das ganze Bundesgebiet - Eingang in die Praxis der Grundschule gefunden hatten. Die Häufigkeit der Durchführung wurde von folgenden Faktoren beeinflusst: Verwendung leicht zugänglicher Materialien, überschaubare Länge des Unterrichtsbeispiels, übersichtliche und detaillierte Beschreibung in der Zeitschrift, ausreichende Absicherung in den Lehrplänen und mittlere politische Brisanz. Beflügelt und informiert durch diese Ergebnisse haben wir unsere Projektarbeit fortgesetzt.

Auch unsere inhaltliche Arbeit ging weiter, so dass wir zum zehnjährigen Bestehen des Projekts einen orangenen Sammelband herausgeben konnten. Er enthielt besonders bewährte und beliebte Unterrichtsbeispiele aus unserem reichhaltigen Repertoire, die in diesem Band dem Vergessen entrissen werden sollten, wie es zumeist das Schicksal von Zeitschriften-Beiträgen ist.


Eine (Dritte) Welt in der Grundschule

Unmittelbarer Auslöser für die Veränderung unseres Namens war die überraschende Tatsache, dass jene Institution, die unser Projekt in hohem Maße fördert, das BMZ selbst zu diesem Zeitpunkt die Bezeichnung "Dritte Welt" in ihren Schriften aufgab und nur noch von "Einer Welt" sprach.

Hatte diese Namensänderung für uns auch inhaltliche Konsequenzen? - Grundsätzlich nicht, aber durchaus doch in der Akzentsetzung. Was wir bisher schon für richtig und wichtig hielten, sollte verstärkt unsere Arbeit und damit auch unsere Veröffentlichungen bestimmen: Die Verknüpfung von "hier und anderswo" (Kinderarbeit bei uns und anderswo, Wasser bei uns und in Afrika usw.), die Betonung der Einheit der Welt (Wir leben in Einer Welt: Waldsterben/Umweltzerstörung, Kinder haben Rechte usw.) und eine vermehrte Behandlung von Weltproblemen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft (Ausländer in unserem Land, Flüchtlingskinder in unserem Land, Asyl heißt Zufluchtsort, Aussiedler - fremd in der Heimat usw.).


Eine Welt in der Schule, Klasse 1-10

Im Jahr 1994 haben wir den Titel unseres Projektes und unserer Zeitschrift noch einmal verändert, diesmal aber ausschließlich aus inhaltlichen Gründen: Den Namen "Eine Welt" haben wir nun ohne Abstriche beibehalten. Grundschule haben wir auf Schule verkürzt, weil wir das Projekt von der 1. bis zur 10. Klasse verlängert haben. Prinzipiell sollte nun das von 16 auf 24 Seiten vergrößerte Heft zur Hälfte praxisbewährte Unterrichtsbeispiele aus der Grundschule und zur anderen Hälfte ebenso praxisbewährte Unterrichtsbeispiele aus der Sekundarstufe I transportieren. Gleichzeitig wurde die Auflage erhöht, so dass unsere Zeitschrift regelmäßig nicht nur wie bisher den einschlägigen Grundschulzeitschriften beigelegt werden konnte, sondern gleichzeitig in einer Reihe von Fachzeitschriften (Deutsch, Geographie, Biologie) und allgemeinpädagogischen Zeitschriften beigefügt wurde. Auch die überregionalen Lehrerfortbildungstagungen haben wir verdoppelt, um auch Lehrerinnen und Lehrern aus dem Sekundar-I-Bereich die unmittelbar praktische Mitarbeit zu ermöglichen.

Was hat uns bewogen, das Projekt auf die Klassen der Sekundarstufen I auszudehnen? Zunächst eine schlicht praktische Erfahrung: Die Grundschulmaterialien aus unserem Ausleihservice wurden mehr und mehr auch von Lehrerinnen und Lehrern der weiterführenden Schulen ausgeliehen. Auf gemeinsamen Tagungen mit Lehrerinnen und Lehrern weiterführender Schulen erlebten wir häufig, dass selbst Lehrende der Sekundarstufe II sich auf die didaktischen und methodischen Prinzipien bewährter Grundschularbeit beriefen, wenn sie eine erfolgreiche Vermittlung des Lernbereichs "Eine Welt" beschworen. Diese und ähnliche Erfahrungen bestärkten uns in der Grundthese: Pädagogisch-didaktische Prinzipien, die sich in der Grundschule bewährt haben, gelten auch für die weiterführenden Schulen. Das gilt z. B. für den fächerübergreifenden Unterricht, für selbstbestimmtes Lernen und vieles mehr. Was bei den Heranwachsenden in Klasse 1-10 kontinuierlich zunehmen soll, sind die kognitive Breite und Differenziertheit, die persönliche Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, das emotionale Engagement und die Handlungsspielräume.

Nicht ganz zufällig gaben wir im ersten Heft des Jahres 1994 den Startschuss für eine Erweiterung, die wir schon in den Anfängen des Projektes immer mitberücksichtigt haben: die Erweiterung nach "unten" ins Kita-Alter. Nach zweijähriger Vorbereitungszeit veröffentlichten wir "Aminatas Entdeckung" - ein Kinderbuch für Kinder ab fünf Jahren - zusammen mit einem Materialband. In der illustrativen und textlichen Bearbeitung dieses Kinderbuches verwirklichten wir alles, was wir in jahrzehntelanger Arbeit an Erfahrung mit Kindern gewonnen hatten. Schon drei Jahre später (1997) konnten wir einen weiteren, diesmal blau gestalteten Sammelband veröffentlichen, in dem die bewährten Unterrichtsbeispiele aus der Sekundarstufe I bereits einen mit der Grundschule gleichwertigen Platz einnehmen.

Zum 25 jährigen Jubiläum des Projektes „Eine Welt in der Schule“ veröffentlichten wir einen dritten, diesmal grünen Sammelband, der wiederum aus dem Fundus von 70 praxiserprobten Unterrichtsbeispielen der letzten sieben Jahre gespeist wurde.


Mit Mut und Elan in die Zukunft

Ein wichtiger Einschnitt und Impuls für das Projekt war die Evaluation, die das BMZ als Geldgeber im Jahr 2001 veranlasst hat. Über ein Jahr lang haben drei unabhängige externe Gutachterinnen und Gutachter unser Projekt auf Herz und Nieren geprüft und am Ende ihre Empfehlungen für die Weiterarbeit gegeben. Den wichtigsten Satz enthält die erste Empfehlung des Evaluations-Teams: "Es wird empfohlen, das Projekt im bisherigen Umfang weiter zu fördern."
Einen wichtigen innovativen Ansatz für die künftige Projektarbeit enthält die dritte Empfehlung des Evaluations-Teams: "Es wird empfohlen, die Internetpräsenz des Projektes deutlich zu erhöhen." Auf diesem Sektor ist inzwischen vieles geschehen.

Die Empfehlung des Teams, "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zu stärken" hat seit der Veröffentlichung des „Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung„ (1. Auflage 2007, 2. erweitertes Auflage 2016) durch das BMZ und die KMK für uns Priorität. So ist auch die jüngste Veröffentlichung 2019, ein Sammelband der besonderen Art, zu verstehen: „Bildung für nachhaltige Entwicklung - Eine Aufgabe für alle Fächer und Lernbereiche" (Band 147 der Grundschulverband-Reihe "Beiträge zur Reform der Grundschule").

Das breite Spektrum unserer Aktivitäten lässt erkennen, dass uns auch nach 40 Jahren nicht der Elan und der Mut verlassen hat, im Gegenteil, mehr denn je sind wir überzeugt - getragen von vielfältiger Zustimmung -, dass das Projekt "Eine Welt in der Schule" weiterhin eine wichtige Rolle in der Vermittlung und Propagierung des Lernbereichs "Eine Welt" in der Schule spielen wird.